Die Staats- und Regierungschefs einigten sich am Dienstag (nach dem bislang längsten Gipfeltreffen in der Geschichte der EU am vergangenen Sonntag) darauf, dem Parlament Ursula von der Leyen MdB als Kommissionspräsidentin vorzuschlagen. Für das Amt des Ratspräsidenten wurde der derzeitige geschäftsführende belgische Regierungschef Charles Michel nominiert, als Chefin der Europäischen Zentralbank die Französin Christine Lagarde und als hoher Außenbeauftragter der Spanier Joseph Borrell.

Auch wenn die genannten Kandidatinnen und Kandidaten mit ihrer Europakompetenz und Erfahrung die nötigen Eigenschaften mitbringen, spiegelt das Personalpaket des Europäischen Rates nicht das Votum der Wählerinnen und Wähler wider. Leider ist es dem Parlament dieses Mal nicht gelungen, sich politisch gegen den Rat durchzusetzen. Es ist bedauerlich, dass die Staats- und Regierungschefs das Spitzenkandidatenmodell bekämpft und sich somit entgegen dem Votum von Millionen Wählerinnen und Wählern positioniert haben. Unser Spitzenkandidat Manfred Weber hat mit unermüdlichem Einsatz gekämpft und ihm ist es gelungen, im Wahlkampf die Menschen für Europa zu gewinnen. Mit seiner Bereitschaft am Dienstagabend, von der Spitzenkandidatur Abstand zu nehmen hat er sich erneut in den Dienst Europas gestellt und einen größeren Konflikt und Stillstand im politischen Betrieb vermieden.

Die Krokodilstränen einiger Akteure im Parlament dürfen jedoch über eines nicht hinwegtäuschen: Bei aller Kritik an den Staats- und Regierungschefs hätten wir uns als Parlament jedoch auch selbstkritisch besser aufstellen müssen: Dadurch, dass wir uns nicht auf einen Kandidaten einigen konnten, war unsere Verhandlungsposition gegenüber dem Rat geschwächt. Mit der Nominierung von Frau von der Leyen für das mächtigste Amt der EU hat der Europäische Rat – anders als noch am Wochenende – zumindest berücksichtigt, dass die EVP-Fraktion bei den Europawahlen stärkste Kraft geblieben ist, dadurch aber auch das Spitzenkandidatenprinzip beschädigt.

Wie geht es weiter?

Die Lage ist verfahren: wir sehen eine Art dreidimensionales Schachspiel, in dem sich Mehrheiten je nach politischer (Parteien und die Bewegung Emmanuel Macrons), geografischer (Nord-Ost-Süd-Visegrad) oder interessengeleiteter (Rechtsstaat, “Schuldenunion”, Flüchtlingspolitik) Positionen oder personellen Eigeninteressen bilden, die häufig auch nur starke Minderheiten sind. Sehr leicht können Sie im Rat aber in eine Veto-Position gelangen: Für die Nominierung eines Kandidaten im Rat ist eine qualifizierte Mehrheit von 55% der Länder, die 65% der Bevölkerungen repräsentieren, erforderlich. Hinzu kommt die heikle Frage, ob es vertretbar ist, dass es zwischen Deutschland und Frankreich im Rat zum öffentlichen Bruch kommt.

Natürlich ärgert es mich massiv, dass Macron zwischenzeitlich das Tauziehen im Rat zum Schaden für die Demokratie erklärt hat – war gerade er es doch, der das Spitzenkandidatenprinzip kategorisch abgelehnt hat. Ich habe in den letzten Tagen von vielen von Ihnen – teils empörte – Rückmeldungen bekommen. Dabei wurde nicht selten an mein Gewissen als Abgeordneter appelliert. Das habe ich gehört – und verstanden! Aber das Gewissen eines Abgeordneten speist sich nicht nur daraus, was man jetzt vielleicht am liebsten täte, leider oft auch nicht daraus, was man als recht und billig empfindet, sondern auch daraus, dass man Dinge vom Ende her denkt. Im Falle einer europäischen Institutionenkrise – die gerade eine streitbare Bürgerkammer allerdings nicht um jeden Preis scheuen sollte – kann dann sehr schnell viel anderes auf dem Spiel stehen, als das – auch mir sehr wichtige – Spitzenkandidatenmodell.

Geschachere?

Natürlich bin ich alles andere als glücklich über das das, was Sie und ich jetzt betrachten. Eines ist mir aber sehr wichtig: Viele Kommentatoren und leider auch einige nicht ganz unschuldige Akteure sind jetzt allzu schnell bei der Hand mit dem Wort vom unwürdigen “Geschachere” oder greifen zu noch deftigeren Formulierungen.

Das Ringen um Lösungen, der Weg zu tragfähigen Kompromissen, der Ausgleich von Interessen, eine politische Kultur, die Meinungsunterschiede nicht als Krieg mit Siegern und Verlierern begreift, sondern als bereichernden gesellschaftlichen Diskurs, die Suche nach Personen, die immer auch für Positionen stehen und (gerade auf Europäischer Ebene) das Wissen, dass Ergebnisse möglichst wenige demütigen dürfen und möglichst viele aufrecht vom Platz gehen lassen müssen – das ist Demokratie und kein Geschachere!